Das große Bad

„Vor einem halben Jahr hättest du mich noch weniger wieder erkannt“, sagte Khalid mit einem bitteren Lächeln und ließ sich auf die Bank plumpsen. Er streckte seinen Rücken durch und blickte nachdenklich an die Decke. „Aber du hast Recht... ich glaube, ich gleiche dem kleinen Jungen von damals kaum noch... äußerlich auf jeden Fall nicht mehr. Die Farbe meiner Haare ist wohl als einziges die selbe wie früher... und die Farbe meiner Augen... bei euch ist es leichter. Wobei...“ Er grinste zu ihr hinüber. „Mit rosanen Haaren...“

Runa drehte sich ihm zu, spielte mit ihren schlanken Fingern mit der Bürste und sah Khalid mit schief gelegtem Kopf an.
"Erzähl mir was damals passiert ist... wo du warst... was du getan hast. Erzähl mir von dir."
Seine Worte ließen sie flüchtig lächeln, dann schüttelte sie den Kopf und stand auf.
"Mir ist kalt... lass uns auf mein Zimmer gehen.
Ich habe genug "nass" gehabt."
Sie vergewisserte sich, das er sich umgedreht hatte und ließ dann das Handtuch fallen.
Eigentlich unnötig sich die Kleider anzuziehen, wenn sie später so oder so wieder schlafen ging... egal.
Runa schlüpfte in die Kleider, die so gar nicht dem entsprachen, was sie sonst trug und fühlte sich in der weiten Hose und der hellgrünen Tunika... mh... wenigstens konnte sie sich bewegen.
Sie nahm ein Tuch, band ihre, noch nassen Haare zusammen und ging dann leise, auf dem feuchten Boden in Richtung Türe.
Davor würde sie auf ihn warten, doch hier in dem Raum wollte sie nicht riskierne noch auf irgendwelche... anderen MEsnchen in... prekären Lagen zu stoßen.

Rasch zog Khalid sich um, warf bis auf seine Schuhe und seinen Mantel alles weg, von dem, was er zuvor getragen hatte und folgte dann der Königin aus dem Badehaus. Nicht minder schnell und so leise wie möglichst, was erstaunlich leise war, nicht umsonst war er einer der besten Diebe Ceunons und Therinsfords.
Sobald er die Türe hinter sich geschlossen hatte, nickte er Runa knapp zu, als Zeichen, dass er ihr folgen würde.

"Jeder ist bereit etwas zu tun, zu einer gegebenen Zeit", meinte Lyonel wage uund wog seine Worte sorgfältig ab.
"Bereitschaft ist stets der Antrieb der Gesellschaft und für den einzelnen erschließt sich die moralische Qualität seiner Handlungen oft gar nicht. Wir wissen oft gar nicht, welche Konsequenzen unser Handeln hat, was es bedeutet. Und wir machen alle Fehler."
Lyonel hatte keinen guten Sinn für soziale Signale, aber er fühlte ganz deutlich, wie sich Zerras weicher Leib unter seinen Händen verkrampfte und ein Zittern durch ihre Muskeln lief, unmerklich, wie der Vorbote eines Erdbebens.
So als würde die Naturgewalt Zerra innerlich geschüttelt werden, bereit loszubrechen, unaufhaltsam.
Irgendwie konnte er sich vorstellen, was sie gerade fühlen musste. Er fühlte dasselbe, wenn er an Rosa dachte, und wie... nein, er wollte nicht daran denken, doch schon fühlte sich seine Eingeweide an, als wären sie scharfkantige Eisklumpen: Kalt, schneidend, frostbrennend.
Irgendwie hatte er das Bedürfnis, Zerra, die große und starke Zerra, die ihn am Helgrind gerettet hatte und die nichts zu fürchten schien, zu trösten.

Er atmete langsam, während er massierend und druckvoll über den Rücken strich.
"Fehler machen uns erst zu Mensche..."

„Und was, wenn die Fehler so groß sind, so verheeerend dass sie einen unweigerlich zum Unmenschen machen?“, fragte Zerra mit leiser, doch noch immer fester Stimme, trotz dem Öffnen und Schließen der Türe. Sie atmete langsam ein und aus, versuchte ihre innerliche Fassung zurück zu erlangen. Zeitgleich begann sie sich in Gedanken zu tadeln. Was erzählte sie da eigentlich? Ihm? Den sie kaum länger kennt, als drei Wochen? Was weiß sie schon von ihm, dass sie denkt, sie müsse ihm von ihrer dunkelsten Seite erzählen? Sie hatte nicht ohne Grund keine richtigen Freunde. Nicht mehr.
„Können wir... über etwas reden, das die Stimmung vielleicht wieder hebt? So kann ich nur schwer eure Massage genießen... die sich wirklich wunderbar anfühlt“, seufzte Zerra und atmete sichtlich befreiter, als zuvor.

Er mochte keine sozialen Fühler haben, aber Sprache - damit kannte Lyonel sich aus.
Und so bemerkte er sofort, dass Zerra in wieder mit Euch angesprochen hatte, bewusst eine Distanz zwischen ihnen schaffen wollte, dass sie sich bedrängt fühlte.
Sofort machte er einen kleinen Schritt rückwärts und massierte mit möglichst gestreckten Armen, um ihr nicht das Gefühl zu geben, bedrängt zu sein.
"Verzeiht.", sagte er, wobei der den pluralis maiestatis besonders betonte.
"Ich wollte Euch nicht zu nahe treten. Verzeiht mir, wenn ich Euch bedrängt hab, es war nicht meine Absicht. Ich wollte Euch nicht in irgendeiner Weise verletzen.", beeilte er sich zu sagen, um nicht noch schlimmeres anzurichten oder den Zusammenhalt der Gruppe, die so wichtig war um Vladimir zu stürzen, zu gefährden. Es gab größere Ziele und er hoffte, dass alle sich diesen unterordnen würde - auch wenn Zerra jedes Recht der Welt hatte ihn für seine Schamlosigkeit und sein Nachbohren zu bestrafen.
Er senkte traurig den Blick.
Es war gerade so schön, oder zumindest intensiv gewesen:
Wieso hatte er nur ein Talent, alles zu zerstören?

„Nein... nein!“, energisch wandte Zerra Gesicht um und schaute in das von Lyonel. „Es tut mir Leid, dass ich schon wieder mit dem Siezen angefangen habe... es... eigentlich darfst du dich geehrt fühlen, denn sowas passiert mir wirklich nur bei sehr wenigen Personen... die ich jedoch sehr schätze und respektiere“, sagte Zerra aufrichtig und lächelte knapp.
„Ich... ihr“ Sie lachte über sich selbst und schüttelte ihr schwarzes Haar. „Du. Du hast mich nicht bedrängt. Das ist bei uns kaum möglich, bei all denen, die Nomadenblut in sich haben. Das ist... sagen wir, ein ungeschriebenes Gesetz. Und um mich zu verletzen, müsstest du die Intensität noch um ein vielfaches verdoppeln“ Sie schmunzelte und wandte sich dann wieder dem Beckenrand zu, auf den sie sich wie zuvor stützte. Mit einer kurzen Bewegung strich sie ihre schwarzen Haare wieder nach vorne. „Könntest du...? Bitte, noch ein wenig... es tut so gut“, sagte sie leise und legte ihr Gesicht auf die kühlen Fließen.

"Nomadenblut?", fragte Lyonel überrascht. Nicht, dass er etwas dagegen gehabt hätte, aber es verwunderte ihn schon, denn eigentlich hatte er anderes gehört. Nichts wirklich genaues, aber wenn man eine Woche gemeinsam in einer Kutsche reiste, bekam man schon einiges über den anderen mit - und das war nicht dabei gewesen.
Außerdem, Nomaden waren genauso Menschen wie andere auch, was sollte das schon mit Verletzlichkeit zu tun haben?
"Ich hab gedacht, du kämst aus Therinsford?" und fügte in Gedanken ein 'Wie Ich' hinzu.
Er zog seine Hände etwas zurück und lockerte die Finger etwas, schließlich wollte er ja auch vernünftig massieren können.
Als er die Hände wieder auf ihren Rücken legte, stellten sich ihm erneut alle Haare auf, als ihm ein sanftweicher Schauer über den Rücken lief.
Warum passierte ihm das, warum war er so nervös, er hatte doch bei der Stadtgarde eigentlich gut genug massieren gelernt und hatte niemals damit ein Problem gemacht.

Konzentriert biss er sich auf die Unterlippe und strich in langen, Bewegegungen mit festem Druck von den Schultern, an der sanften Wölbung der Wirbelsäule entlang, Richtung Becken.

„Mhh...“, machte Zerra genießerisch und lächelte selige, während Lyonel sie weiter massierte. Wenn es nach ihr ginge, würde sie die Zeit anhalten, damit dieser Augenblick länger wehrte. Nicht ewig, aber doch für eine Weile. Ihre Finger spielten mit den Perlen in ihren Haaren, als sie auf seine Frage antwortete.
„Ja, das stimmt, ich wuchs in Therinsford auf... doch meine Mutter war eine Nomadin. Sie kam von hier... nur wegen meines Vater zog sie in den Norden“, erzählte sie, wobei sie das Wort 'Vater' seltsam lieblos aussprach. Es lag eine Kühle darin, als ob sie sich davon distanzieren würde allein durch die Sprache. „Dennoch, ich merke oft, wie mir dieses warme Klima fehlt. Die Menschen hier sind anders, als die im Norden... vielleicht liegt es an den verschiedenen Kulturen oder Traditionen“

"Aber es sind alles nur Menschen.", sagte Lyonel, als seine Hände am unteren Ende des Rückens angelangt waren und nun dort einen Moment ruhten. Vielleicht einen Moment zu lang.
"Es gibt vielleicht kulturelle Unterschiede, aber letztlich macht es doch keinen Unterschied, ob man von einem nordischen Langschwert oder einem nomadischen Krummsäbel getötet wird."

Er bemerkte, dass seine Hände immer noch an den Hüften lagen und errötete leicht. Was hatte ihn eigentlich geritten?
Schnell begann er, an den Schulter weiterzumassieren.

"Hm... das stimmt wohl, doch das meinte ich auch nicht. Nomaden sind natürlich Menschen, wie alle anderen, nur verhalten sie sich hier oft anders. Sie gehen mit vielen Situationen anders um und sie sind... offener... freundlicher als so manche im Norden. Damit meine ich nicht dich, auch niemanden, mit dem ich reise..." Zerra pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht und schüttelte dann leicht den Kopf. "Wie auch immer... ich denke, du hast mir gegenüber genug Gegenleistung erwiesen. Allmählich sollte ich hier raus, nicht, dass ich mich am Ende hier noch auflöse", lachend wandte sie sich kurz umd uns streckte sich dann.
Das Bad hatte ihr wirklich gut getan, ganz besonders die Massage.
Rasch stützte sie sich auf den Beckenrand, zog sich hoch und holte sich dann ihr Handtuch auf der Bank, in das sie sich wickelte.

Nachdenklich sah Lyonel seine Hände an. Hatten sie gerade wirklich berührt, oder war das alles nur Einbildung?
Spielte das eine Rolle? Er konnte zurückschauen auf einen schönen Moment, den er wirklich genossen hatte und das Bild davon konnte er im Herzen und in Erinnerung tragen, sodass es ihn begleitete. Es würde seine Zuflucht sein, wenn er es brauchte - den harte Zeiten standen bevor, das stand außer Frage.
Blut würde bald den Boden tränken, das war unausweichlich. Entweder Vladimir fand sie und tötete sie, oder aber sie musste den Grafen stürzen und besiegen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Vladimir würde nicht eher Ruhe geben, bis seine Macht gesichert und alle Gegner dieser Machtposition ausgelöscht waren - restlos.
Genausowenig wie sie aufhören würden, den Usurpator zu besiegen - es war unmöglich, dass sie unblutig nebeneinander herexistierten.
Ein Kampf und aus den Trümmern, die er hinterließ, würde sich ein neues Land erheben, mit Frieden und Freiheit für jeden.
Denn die Fehler, die einmal gemacht waren, durften nicht noch einmal gemacht werden.

Lyonel entstieg ebenfalls - wenn auch an anderer Stelle dem Wasser und legte sich ein Handtuch um die Hüften.
"Du hast Recht, immerhin haben wir Aufgaben zu erledigen."

Er setzte sich auf die Bank, hob sein Pergament vom Boden auf und stierte auf die Notizen, ehe er einen Schlusstrich darunter zog.
Das waren die Informationen, die sie hatten. Jetzt galt es, einen Plan zu entwickeln.

"Du willst dich wirklich sofort an die Arbeit machen? Beeindruckend..." Zerra streifte sich das weite Leinenoberteil über, das man ihr aufs Bett gelegt hatte.
Ein neuen, dünnen Gürtel schnallte sie sich um die Hüften und befestigte daran das blaue Tuch von ihrer Mutter.
Letztendlich lag von dem frischen Kleiderbündel Rheas nichts mehr auf der Bank, sondern befand sich auf Zerras Haut.
Sie hatte sogar neue Schuhe bekommen, ungewohnt bequeme noch dazu.
Lächelnd betrachtete sie sich von oben herunter. "Das ist wirklich mal etwas anderes...", murmelte sie, zupfte an ihrem Oberteil und schaute dann wieder zu Lyonel hinüber.

"Natürlich. Wir befinden uns ja faktisch im Krieg - mir fällt keine andere Bezeichnung für ein Verhältnis ein, in dem man versucht, sie gegenseitig umzubringen - mit einem Grafen, der zufälligerweise über Heere, Städte und Festungen gebietet, von irgendwelchen Spezialkräften sogar abgesehen. Wenn man jetzt bedenkt, dass wir weniger als ein Dutzend Leute sind und mit jedem verdammten Augenblick mehr Leute unter der Herrschaft leiden müssen und er das Land ein Stückchen weiter unter seine Finger reißt, dann halte ich es für durchaus angebracht, sobald wie möglich damit anzufangen Gegenmaßnahmen zu ergreifen.", sagte er und rollte die Schreibfeder zwischen den Fingern hin und her.
Fast schämte er sich für das undisziplinierte - geradezo orgiatische - Verhalten im Bad, welches so viel Zeit gekostet hatte.
"Und da die Königin sich vermutlich gerade ablenkt und verwöhnen lässt um den Kopf für eine verantwortungsvolle Entscheidung freizubekommen, denke ich, dass es nicht schaden kann, wenn man schonmal verschiedene Szenarien in Gedanken durchgespielt hat, sodass man einen vernünftigen und funktionierenden Plan fassen kann."

"Zar'roc...", murmelte Zerra mit gesenktem Blick, als Lyonel den Grafen erwähnte.
Das war es, das er, Vladimir, verbeitete. Kummer. In jeglicher Art und Weise.
Nicht wenig später fiel Runas Namen, wobei Zerras Gesicht sich verzog und verfinsterte.
"Ich hoffe für den Burschen, dass er mindestens drei Zimmer weiter von dem der Königin, schläft. Ansonsten könnte sein Aufenthalt hier ziemlich ungemütlich werden...", murrte sie finster und ließ sich auf der Bank nieder. Sie legte den Kopf kurz in den Nacken und schaute dann blinzelnd zu Lyonel hinüber.
"Du hast Recht. Manchmal wünschte ich mehr Ahnung von so etwas zu haben, als das Kämpfen... Zu oft musst ich die Majestät berraten, dabei ist das eigentlich nicht das, was mir liegt..."
Sie hob ihre rechte Hand und deutete auf das Pergament auf dem Boden. "Hast du dir darüber Gedanken gemacht? Und aufgeschrieben?"

"Höre ich da ein winziges Quätchen an Eifersucht? Khalid ist doch vernünftig und hat das Herz am Rechten Fleck. Da solltest du dir nicht allzu viele Gedanken machen, zumal Runa ja... 20? 21? 22? ist, sie sollte alt genug sein, um selber entscheiden zu können, wer ihr Zimmer betreten darf.", sagte Lyonel und grinste.
"Außerdem hört sich Tante Zerra doch irgendwie lustig an, oder?"
Immer noch grinsend schaute er wieder auf sein Pergament und das Aufgeschriebene kam ihm auf einmal gar nicht mehr so bedrohlich vor wie vorher.
Was hieß es schon, dass Vladimir aus Dras'Leona kam und von dort absolut loyale Truppen mitgebracht hatte. Wenn es hart auf hart kam, würden sie auch allein in offener Feldschlacht einer Reitereiangriff überstehen, denn sie hatten etwas, was ihre Gegner nicht hatten:
Freundschaft.

Immer noch schelmisch grinsend schob Lyonel Zerra das Pergament zu.

„Tante Zerra? Oh... bitte... daran will ich nun wirklich nicht denken! Sie ist gerade mal 21 Jahre alt und dieser... dieser Brusche...“ Zerra brach ab und nahm blinzelnd den Aufschrieb Lyonels entgegen. Es war nicht das, was sie da las, stutzen, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie eine Ahnung hatte, woher ihr Khalid bekannt vor kam. Warum er ihr so... unsympathisch war. Sie schluckte zusätzlich als ihr Blick den Namen des Grafen streifte. Dann stand dort Dras Leona - Bilder der Arena traten vor ihr inneres Auge, Sklaverei – Peitschenhiebe und Schreie erklangen für einen kurzen Augenblick in ihren Ohren.
Ihr Kiefer verkrampfte sich kurz, während sie versuchte sich wieder auf die Sätze zu konzentrieren, die Lyonel nieder geschrieben hatte.
"Das... das ist schon mal einiges... beachtlich", sagte Zerra, nachdem sie sich alles durch gelesen hatte und schaute zu ihm auf. Sie reichte ihm das Stück Pergament mit der rechten Hand, während sie sich mit der linken fahrig durch das zerzauste, noch immer feuchte Haar fuhr.

"Wobei es in der jetzigen Situation wirklich verantwortungslos wäre. Der Krieg ist kein Ort für ein Kind."
Lyonel nahm das Pergament zurück und glättete es auf der glatten Sitzoberfläche der Bank. Er leckte sich die Lippen und kaute auf seiner Schreibfeder herum, während er nachdachte.
Sie hatten eine Chance gegen Vladimir. Er mochte zwar Massen von Soldaten in eine Schlacht werfen können, aber letztlich wurde jeder Despot geschlagen, weil eben Despotismus ein Fehler war.
Eine schlagkräftige Armee bestand nicht nur aus Soldaten, sondern sie wurde von allen unterstützt. Bauern arbeiteten für das Korn, Schmiede schmiedeten Schwerter und Rüstungen und Sattler bereiteten Leder, sodass auf dem Schlachtfeld alles stimmte. Allerdings war eine Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied und gerade darin lag ihre Chance. Eine Armee war nutzlos, wenn sie nicht zum Einsatz kommen konnte oder selbst nicht mehr an die Ideale glaubte.
"Weißt du, ich glaube, wir haben eine Chance, denn wir haben etwas, was er nicht hat: Hoffnung."

„Das stimmt“, sagte Zerra, die lächelnd nickte und atmete tief ein. Hoffnung.
Sie würde sogar fast behaupten, dass sie noch viel mehr hatten, an dem es dem Grafen und seinen Leuten mangelte.
Zusammenhalt, der nicht auf Zwang und Geld beruhte, eine Gewissen, ein Herz.
Damit meinte sie nicht nur das Organ, dass uns Leben verlieh, sondern viel mehr, was man diesem Herzen alles zu schrieb. Der Graf allerdings war herzlos, handelte aus etwas anderem heraus...
„Dennoch... man sollte nicht vergessen, dass die Truppen des Grafen ernstzunehmende Gegener sind. Und falls er sich auch Runas Truppen einverleibt, haben wir definitiv ein Problem...“, murmelte sie seufzend. Nachdenklich schloss sie ihre Augen und massierte sich den Nasenrücken.
„Man darf auch die engsten Vertrauten des Grafen nicht vergessen, jene, die er selbst seine Elite nennt...“

"Jene, die er seine Elite nennt...", echote Lyonel nachdenklich und sah auf das Pergament.
"Was weißt du denn über sie? Je mehr Informationen wir haben, desto genauer können wir planen.", fügte er hinzu und sah forschen herüber zu Zerra.
Sie wirkte irgendwie seltsam angespannt - eigentlich nicht so, wie es nach einer Massage hätte sein dürfen. Lag das daran, dass ihre beste Freundin Runa gerade wenige Räume weiter nicht ihr Leben, aber ihre Unschuld verlor?
Oder vielleicht einfach nur an den dunklen Vorahnungen, die sie alle betreffend der Zukunft hatten. Denn einfach - das war es, von dem jeder wusste, dass es das nicht werden würde.

„Es sind fün... vier... Drei Männer... eine Frau“, begann Zerra langsam, hielt ihre Augen dabei noch immer geschlossen, während sie sich ermahnte gleichmäßig zu atmen.

„Ihr habt vielleicht einmal von ihnen gehört... erkennen tut man sie allerdings nur schwer. Sie schaffen es, sich möglichst unentdeckt unter das Volk zu mischen.
Ihr Anführer, der Stärkste unter ihnen, heißt... Baldor. Man sieht ihn hin und wieder an Graf Vladimirs Seite.
Er ist groß, erinnert von seiner Statue an einen Schrank... eine Lanze ist es, die er gnadenlos führt.
Direkt nach ihm... kommt Dunas.
Seine Waffen... sieht man selten. Man nennt sie Chakrams, kreisrunde Wurfklingen die recht groß sind. Er ist... sehr gefährlich im Kampf. Aufbrausend... ähnlich auch Larxene. Sehr temperamentvoll und ihr Zunge ist so scharf, wie die Messer, die sie führt“, erzählte Zerra und musste beim letzten Satz bitter lächeln. Früher hatten sie Larxene stets damit aufgezogen.
„Der letzte Mann im Bunde ist Milian. Manche finden, er sehe aus wie ein Heiliger... mit seinen blauen Augen und dem blonden Haar. Aber in Wirklichkeit ist er ein skrupelloser Kämpfer, stark und... absolut ruhig. Er verliert kaum die Fassung. Ach ja... seine Waffe ist ein Bihänder. Ziemlich groß... Sie nennen sich Zar'roc, da mit ihnen der Kummer bei denjenigen herein bricht, auf die es Zar'roc abgesehen hat... und... sie tragen alle... ein Zeichen“, sagte Zerra, die blinzelnd ihre Augen wieder öffnete.

Aufmerksam hatte Lyonel mitgeschrieben, bis Zerra bei Larxene angelangt war, dann ließ er die Feder sinken und beobachtete die erzählende Zerra, die mit geschlossenen Augen kaum eine Armlänge von ihm entfernt saß und offenbar mit sich kämpfte, wie man an dem bitteren Lächeln sehen konnte.
Würde es sie nicht berühren, so hätte sie die Augen nicht verschlossen, dachte Lyonel sich und konnte sich unwillkürlich in ihre Lage versetzen.
Vielleicht hatte die Leibwächterin ja auch negative Erfahrungen gemacht und schleppte die Erinnerungen an Schmerz, Blut und Tod wie ein schweres Kreuz auf den Schultern mit sich herum. Sie alle hatten dunkle Flecken in der Vergangenheit und das konnte er gut mitfühlen.
Irgendwie verspürte er das dringende Bedürfnis ihr einen Arm um die Schulter zu legen, um sie zu trösten, aber er blibe sitzen, wie vorher.

"Woher weißt du das? Woher kennst du diese... Leute?"

Uff. Nicht, dass Zerra allein noch nie so viel über ihre früheren Freunde gesprochen hatte, nein, nun sollte ihr auch dies über die Lippen kommen? Das dunkelste Geheimnis ihres bisherigen Lebens? Ein Schauer jagte ihr über den Rücken und verursachte, selbst bei den warmen Temperaturen des Bades, Gänsehaut bei ihr. „Dieses Tattoo... das schwarze Zeichen ihrer Verbundenheit und der Treue gegenüber Graf Vladimir... ist dieses hier“ Zerra drehte ihm ihren rechten Oberarm zu, während sie ihm emotionslos ins Gesicht blickte. Ihre eisblauen Augen fixierten regelrecht die seine, erwartungsvoll, wie er darauf reagieren würde. „Ursprünglich bestand Zar'roc aus fünf Mitgliedern und ich... war ein Teil davon“

"War...", widerholte Lyonel eindringlich und erwiderte standhaft ihren Blick, auch wenn es ihm schwerfiel. Eine Unterstützerin der Sklaventreiber. Jedem hätte er das zugetraut, nicht aber Zerra.
"Du warst. Du bist nicht mehr.", sagte er zuerst zögerlich, dann mit zunehmend festerer Stimme.
Andererseits, konnte sie nicht auch eine Spionin gewesen sein, von Anfang an? Das sie nicht verhindert hatte, dass Runa entführt wurde? Die Hinrichtung, alles nur eine Tarnung.
Zweifel nackten an Lyonel, während er immer noch den Blick erwiderte.
Sein Kiefer mahlte angespannt.
"Sag mir die Wahrheit: Arbeitest du noch immer für ihn?"
Das Zuspielen von Informationen, das 'zufällige' Treffen im Bad... wirklich alles nur Zufall, oder hinterhältig und von langer Hand geplanter Schachzug, um sie ins Verderben zu stürzen?

„Nein! Nein... ich ging andere Wege. Trennte mich von ihnen vor etwas mehr als sechs Jahren. Ich bin die einzige, die es je gewagt hat, auszusteigen. Ich bin der Verräter, in ihren Augen... ganz besonders auch in den Augen von Graf Vladimir. Wir hatten damals nicht viel miteinander zu tun, bis auf... die Aufträge... doch ihm selbst persönlich begegnet, bin ich ihm nur selten. Dennoch nimmt er es mir übel“ Zerra fuhr sich über das Gesicht und biss sich auf die Unterlippe.
„Ich meine es ernst, wenn ich sage, dass ich ihn hasse. Aus tiefstem Herzen. Ich hasse, was er tut... und ich hasse mich für das, was ich damals getan habe“
Sie ließ ihre Hände zur Bank hinunter sinken und hielt sich dann an dessen Rand fest.
„Ich verdanke es Runa... unserer Freundschaft und den Worten meines Vaters, dass ich zurück fand. Ich wollte mich ändern und meine einzige, wirkliche Freundin beschützen können... darum bin ich hier. Ich habe mit Zar'roc nichts mehr zu tun“