Zweites Gästezimmer

Lyonel nickte.
"Natürlich, das würde vielleicht helfen, aber dann würden wir weiterhin passiv bleiben. Die Kunst des Krieges, das war etwas, was die Arena mich gelehrt hat, ist es aktiv zu bleiben, den Kampf zu gestalten und zu kontrollieren und vor allen Dingen zu agieren, anstatt zu reagieren.
So kann man Waffen und Ort für sich günstig wählen, während der Gegner gezwungen ist darauf einzugehen."
Irgendein großer elfischer Autor, irgendein Klassiker der Militärliteratur hatte über das Thema Aktion und Reaktion im Kampf mal drei Bände verfasst, die alle in Du Weldenvarden als Pflichtlektüre für Offiziere in der Armee galten, aber Lyonel erinnerte sich gerade nicht mehr an dessen Namen, doch das war auch ohne Bedeutung.
Wichtig war, dass sie aufhörten auf Vladimirs Aktionen zu reagieren und sich in Surda verkrochen, dass sie selber einen Plan fassten, handelten und somit den Grafen zu Fall brachten, anstatt nur dafür zu sorgen, dass sie selbst nicht zu Fall gebracht wurden.

"Heißt: Wir müssen sie aufspüren, bevor sie uns finden." Wie selbstverständlich sprach Lyonel in der ersten Person Plural, wobei unklar blieb, ob er Zerra und sich, oder ihre ganze Gruppe meinte, "Weißt du, wo sie sich regelmäßig aufhalten? Wo wir sie finden können? "Einzelnd?"

„Einzeln?“ Zerra schnaubte und schüttelte dann mit bitterem Lächelnd den Kopf.
„Sie sind meist nur dann einzeln unterwegs, wenn sie sich wieder gestritten haben. Kleineres Geplänkel... meist ist Larxenes Verhalten ausschlaggebend.
Früher hatten sie ein Haus in Ceunon... aber das war vor fünf Jahren.
Sie wechseln es regelmäßig, aus... Sicherheitsgründen, daher bezweifle ich, dass sie noch dort wohnen.
Ansonsten... Baldor ist meist in Ceunon, bei Vladimir, wenn er nicht gerade irgendeinen Auftrag ausführt. Larxene liebt Tavernen und besucht diese oft spät abends.
Malian ist schwierig. Er kann überall sein... und Dunas...“, murmelte Zerra und fuhr sich durch das Haar.
„Ruinen. Dort trainierte er früher... und gelegentlich hält er sich in Ilirea auf... zumindest war das so vor fünf Jahren. Ich weiß nicht, ob sich seit dem etwas daran geändert hat“

"Das ist klug von ihnen, aber schlecht für uns. Im Gesamten ist uns Vladimir an Macht überlegen, also müssen wir unsere Kräfte konzentrieren und an seinen Schwachpunkten zuschlagen, dann werden wir ihn schlagen können.", sinnierte Lyonel und dachte weiter nach.
Oder sie mussten Vladimir anders von seinen Verstärkungen abschneiden.
Es gab zwar mit Sicherheit genügend Bürger im Land, die bereit wären bei einer Rückkehr Runas die Waffen zu ergreifen, aber Bauern und Arbeiter, mochten sie noch so motiviert sein, gegen ausgebildete Krieger in die Schlacht zu schicken, wäre eine Schlachtorgie.

Letztlich würde der Wille des Volkes zwar siegen, aber das Blutopfer, mit dem es erkauft wäre, wäre ein zu hoher Preis und würde in Generationen noch nicht verheilt sein.
Das heiß, es blieb an einzelnen hängen, Vladimir erst seiner Arme und dann seines Herzens zu berauben, um ihn zu schwächen.
Hieß, an ihnen.
"Andererseits, wenn wir sie zusammen finden, umso besser: Vier tote Feinde sind mir lieber als einer."

"Du weißt nicht wovon du sprichst" Zerra starrte ihn entgeistert an und schüttelte dann den Kopf.
"Du weißt nicht, wie stark sie sind... du hast nicht gesehen... Baldor alleine ist eine unglaubliche Gefahr. Viele belächeln ihn, wenn er in einem Duell seine Lanze wählt... aber wenn er fertig war, lächelte niemand mehr. Stattdessen war blanke Angst in ihren Augen. Baldor war und ist gewiss noch heute der Stärkste unter ihnen.
Die einzige Person, die sich unter ihnen noch halbwegs leicht besiegen lässt, ist Larxene. Malian ist ein harter Brocken. Er ist in einem Kampf die Ruhe selbst und damit umso bedrohlicher... Doch wenn wir wen hätten, der es mit seinem Bihänder aufnimmt, dann... hätten wir vielleicht auch eine Chance. Aber alle zusammen, das ist... Dann sollten wir dafür sorgen, dass wir in der Mehrzahl sind und im Vorteil"
Zerra musterte das Stück Pergament, das sie vorhin aus ihrer Tasche gezogen hatte und glättete es.
"Wenn wir die Gruppe ohne Baldor vorfinden... dann ist die Chance sie zu besiegen, wesentlich höher", sagte sie nachdenklich. Man sah ihr deutlich an, wie sehr sie Baldor fürchtete.

"Oder wir finden ihn zuerst. Das klang nämlich gerade so, als wäre er eine Art Anführer, der das ganze zusammenhält. Der Kopf des ganzen. Da wäre vielleicht die Chance sie nachhaltig zu schwächen. Wobei das nicht einmal im direkten Kampf sein muss. Es gibt verdammt viele Wege, einen Menschen umzubringen.", sagte Lyonel und dachte an Armbrustbolzen aus dem Hinterhalt, Gift oder andere Methoden, die man anwenden konnte, wenn man genügend Informationen hatte. Das war zwar alles andere als ein vernünftiger und ehrenhafter Kampf, aber der Zweck heiligte die Mittel. In jedem anderen Verbrechen hätte man die Verbrecher nachher vor Gericht bestrafen können. Das Verbrechen, was Zar'roc jedoch begangen hatte, hatte alle Gerichte zerstört und sie unbrauchbar gemacht. Selbstjustiz als probates Mittel, weil es das einzige war, die ultima ratio.

"Egal wie wir es drehen und wenden, als erster brauchen wir mehr Informationen. Denn mit Vladimirs Netz an Informanten werden sie dich oder Runa wahrscheinlich eher finden als wir sie, wenn wir uns nicht sputen."

Wenn er nur geahnt hätte, wie Recht er mit diesem Satz hatte...

"Leider kann ich nicht mit Sicherheit sagen, wo sie sich aufhalten. Ich bezweifle auch, dass es sonst irgendwer weiß außer Zar'roc selbst oder Graf Vladimir. Ihre Vorhaben halten sie auf das pingligste geheim... Wir müssten uns einen von ihnen schnappen... und hoffen, dass er singt..."
Zerras Kopf rauchte bereits förmlich, so sehr zerbrach sie sich den Kopf über das Ganze. Ihre Finger fuhren über die rauhe Struktur der Pergaments, während sie leise seufzte. "Und ja... Baldor ist so etwas ähnliches wie ein Anführer... mich und Dunas hat er anfangs ausgebildet. Er war unser Lehrmeister"

"Hmmm...", brummte Lyonel und tauchte seine Feder in das Glas mit der tiefblauen, fast schwarzen Tinte, welches auf dem Tisch stand.
Langsam und in vernünftig-schöner Schrift schrieb er Zerras Schlussfolgerung auf und machte einen Strich darunter.
"Viel mehr lässt sich dazu nicht sagen. Wir sollten eine Nacht darüber schlafen und uns morgen überlegen, was uns dazu einfällt."
Seufzend rieb er sich die Müdigkeit aus den Augen, wobei er sich fast mit der Feder in selbige stach, so aber nur einen schwarzen Tintenstrich in seinem Gesicht, unterhalb des rechten Auges, hinterließ.

"Was können wir sonst tun, um Vladimirs Machtposition zu schwächen. Jeder Aufruf zur Revolte wird blutig niedergeschlagen werden, jedes Vernichten von Korn hat ein Hungern der einfachen Bürger, nicht der Soldaten zur Folge. Ein reibungsloser, unmenschlicher Herrschaftsapparat..."

Er gähnte, hielt sich aber natürlich, so wie es höflich war, die Hand vor den Mund.

„Nun ja... wir können auf die Loyalität der Leute hoffen. Runas Volk hat Vladimir ja weiß gemacht, ich hätte sie getötet. Vielleicht würden sich welche von ihm abwenden, wenn sie erfahren, dass die Königin noch lebt. Und... nun ja... wir könnten die anderen Völker davon unterrichten und auf ihre Unterstützung hoffen. Elfen, Zwerge und Urgals... aber vielleicht ist es besser, wenn wir diese Frage mit uns nehmen und für heute einen Strich darunter ziehen. Es ist spät... die Reise war beschwerlich... wir haben uns Schlaf verdient“, sagte Zerra und trank ihr Glas aus. Als sie wieder zu Lyonel auf schaute, lächelte sie knapp und deutete dann auf seine Wange.
„Du hast dich da angemalt“, sagte sie lächelnd, stand auf und holte ein kleines Tuch aus ihrer Tasche, dass sie Lyonel daraufhin reichte.

"Oh, äh, danke.", sagte Lyonel und tupfte mit den Tuch ungeschickt auf seiner Wange herum, ohne jedoch viel zu erreichen. Vielmehr verschmierte er die tinte etwas, sodass der Strich, der es ursprünglich gewesen war, etwas rundlicher wurde und eine Spitze sowie zwei Ausbuchtungen bekam, was seltsam aussah.
"Eben das meine ich, können wir nicht machen. Was meinst du, was Vladimir machen wird, wenn einige Bauern rebellieren. Er wird jeden einzelnen von seinen Leuten massakrieren lassen. Und wenn die Nomaden uns helfen... glaubst du wirklich, dass die Leute das akzeptieren würden? Königin Runa hätte sich von fremden Soldaten gegen ihr eigenes Volk helfen lassen, wie lächerlich ist das denn...
Von Elfen und Urgal brauchen wir da gar nicht ... zu reden."
Er gähnte ein weiteres Mal und drehte die Feder spielerisch zwischen den Händen, als er weiter überlegte.
"Nein, wir müssen die... Leute treffen, die auch Schuld sind, und nicht noch ... mehr. Du sagst selbst, dass die Leute genug leiden ... wieso sollte noch mehr von ihrem Blut fließen, wenn... es eine andere Möglichkeit gibt? Wir müssen sie nur ... finden ..."

Er sah vom Pergament auf und Zerra an, mit einem letzten, glücklichen Lächeln.
Dann sank sein Oberkörper langsam vor, bis er schließlich auf dem Tisch lag und mit geschlossenen Augen in einen tiefen Schlaf gefallen war - wobei er, mit seinem Glück, natürlich mit dem Gesicht ein weiteres Mal in der Tintenfeder lag.

Lächelnd hatte Zerra den Tisch umrundet, während Lyonel schließlich auf den Tisch sank und einschlief.
Einen Moment stand sie da, die Hände im Rücken und betrachtete ihn beim Schlafen.
Eine so friedliche Geste, rührte sie seltsamerweise an. Fast beneidete sie ihn dafür.
Doch was nun? Lyonel auf dem Stuhl zu lassen, wäre nicht wirklich freundlich ihrerseits.
Sie wusste wie hart ein Stuhl sein konnte und wie sehr der Rücken am Tag darauf schmerzte.
Vorsichtig zog sie also die Feder beiseite, schloss das Tintenfass und zog sein Stück Pergament beiseite.
Anschließend stellte sie sich hinter ihn, zog den Stuhl zu ihrem Bett, wobei sie aufpasste, dass er nicht herunter fiel und zog ihn schließlich auf die Decke hinauf.
Dabei war sie wirklich froh darüber, dass er keine Rüstung trug, was das ganze sicherlich nur erschwert hatte.
Nachdem sie ihn einigermaßen behutsam auf eine Seite des Bettes gezogen hatte, schlüpfte sie aus den Schuhen und ließ sich auf der anderen Seite nieder.
Grinsend musterte sie ihn einen Moment, während Erinnerungen in ihr aufkamen...

Dunas ließ sich neben Zerra ins Bett fallen und streckte sie gähnend.
„Schläfst du hier?“, fragte sie und musterte ihn von der Seite, während sie das Buch zu schlug, an dem sie gerade gelesen hatte.
„Stört es dich?“, fragte er und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.
„Nein, nein... ich wollt's nur wissen“, antwortete sie und legte das Buch beiseite, während er ihr den Rücken zu drehte.
Sie stand auf und löschte das Licht und kehrte dann zurück in das Bett.
Dunas drehte sich dabei wieder zu ihr um. „Schläfst du mit mir?“
„Wie?“, entgegnete sie sie und wandte sich in der Dunkelheit zu ihm um.
„Nichts, nichts... ich wollts nur wissen“, entgegnete er und drehte sich grinsend um.
„... WIE!?“ Zerra zog ihr Kissen hinter sich hervor und stürzte sich damit auf Dunas.
„Mach, dass du gefälligst in dein Zimmer gehst! Los, verschwinde!“, sagte sie, schlug ihn mit dem Kissen und stieß ihn dann mit einem ordentlich Ruck aus ihrem Bett.
Dunas lachte schallend, selbst als er sich auf dem Boden wieder fand.
„Ach komm, Zerra, ich kann nicht in mein Zimmer! Du weißt, dass Larxene es bei ihrem letzten Anfall auseinander genommen hat“
„Dein Pech, hättest du sie eben nicht so gereizt!“

Zerra schloss ihre Augen und drehte sich auf die Seite. Ihr Blick streifte dabei ein letztes Mal Lyonel, vor allem die Tintenkleckse in seinem Gesicht, und schlief dann mit einem Lächeln im Gesicht ein.

Lyonel schlief tief und traumlos. Er genoss es einfach nach der Reise Ruhe zu haben. Fasst konnte man Frieden in seiner Mine lesen, als er, weit entfernt von zu Hause, in dem weichen surdanischen Bett neben Zerra schlief.

Es war Ruhe...
Frieden...

Lyonel spürte, dass es gut war. Dass er ausgeruht war, dass sein Körper sich gut fühlte, dass er in etwas Weichem, Warmem lag. Er seufzte wohlig und drehte sich von einer Seite auf die andere, bis er sich auf etwas ebenfalls Warmes, aber Härteres, Festeres wälzte, was Zerras Arm war, aber das wusste Lyonel nicht.

Erwartungsvoll, was der neue Tag bringen würde, öffnete Lyonel die Augen - und sah direkt in Zerras schlafendes Gesicht. Er lächelte, doch dann wurde er sich der Situation gewahr und ihm wurde klar, was das bedeutete.

Scharf Luft einziehend fuhr er aus dem Bett hoch.

Zerra verzog kurz das Gesicht, kniff ihre Augen noch etwas fester zu und drehte sich dann auf die andere Seite.
„Lass mich... noch n wenig... so selten“, murmelte sie im Halbschlaf und zog die Decke noch etwas höher.
Ihre schwarze lagen dabei ähnlich wie ein Fächer über das weiße Kissen verteilt.
Selten hatte sie in einem so wundervollem Bett gelegen und ganz besonders auch noch so lange.
Dass sie dabei neben einem Mann lag, den sie noch gar nicht so lange kannte, störte sie herzlich wenig.

Lyonel atmete mehrmals schnell und versuchte sich zu beruhigen. Was war geschehen? Wirklich? Nein, das konnte fast nicht sein.
Der letzte woran er sich erinnerte war, dass sie beisammen gesessen hatten, ihre Erinnerungen und Lebensgeschichten ausgetauscht hatten und danach sich überlegt hatten, wie sie Vladimir angreifbar machen konnten.
Danach war in seiner Erinnerung ein großes, schwarzes Loch.

Er atmete durch.
Was auch immer war, jetzt musste er die Konsequenzen tragen.

"Schlaf noch etwas.", sagte er sanft und drehte sich zu Zerra um, die immer noch im Bett lag. Mit seiner rechten Hand richtete er vorsichtig die Decke, die etwas verrutscht war, wieder und legte sie ihr um die Schultern.
Als das getan war, betrachtete er sie einen Moment schlafen, dann setzte er sich an die Bettkante und überlegte, was passiert war.

Zerras Schlaf wehrte allerdings nicht lange. Als sie sich nämlich umgedreht hatte, hatte sie sich gleichzeitig den Fenstern zu gewandt, durch die das Tageslicht drang.
Eben jenes Tageslicht war es auch, dass Zerra ins Gesicht schien. Seufzend drehte sich also auf den Rücken und fuhr sich über das Gesicht.

„Hast du gut geschlafen?“, fragte sie gähnend und öffnete erstmals ihre Augen.
Blinzelnd richtete sie sich langsam auf und musterte Lyonel lächeln. Er hatte noch immer Tintenflecke im Gesicht.

"Guten Morgen.", begrüßte Lyonel sie und nahm sich zusammen, um sie nicht sofort anzuschreien, was passiert sei. Er wandte sich zu ihr um und betrachtete, immer noch halb auf dem Bett sitzend, das Spiel der Sonne in ihrem Haar.
Von der Sonne geküsst...
Der Dichter, der diesen Ausdruck erfunden hatte, musste Zerras Haare gesehen haben, als er ihn erfunden hatte, denn anders ließ sich der Anblick nicht beschreiben. Pechschwarze, seidige Strähnen auf weißen Leinenlaken, wie poliertes Ebenholz in frischem, jungfräulichem Schnee.
Darin Sonnenstrahlen, Flecke wie die Koronae von tausend Sonnen, glitzernd in dem Schwarz wie die Sterne am Himmelszelt.

"Ja, sehr gut... und du?"

"Ebenfalls wunderbar", sagte Zerra, die schwärmerisch lachte und die Decke zurück schlug.
"Ein Bett ziehe ich doch ganz klar dem harten Boden auf Reisen vor", sagte sie, rutschte mit ihren Beinen über dne Rand des Bettes und stand auf.
Sie zupfte sich ihr Oberteil zurecht, streckte sich ein wenig und zog ein paar der Vorhänge beiseite.
"Entschuldige übrigens... ich wollte dich gestern nicht mehr wecken, nachdem am Tisch eingeschlafen bist.
Also habe ich dich einfach zum Bett gezogen und dich dort schlafen lassen", sagte sie, während sie ein großes Fenster aufzog.

Da war sie. Ganz unerwartet, aber nicht weniger herbeigesehnt.
Die Erklärung. Die Erlösung.

Seufzend stieß Lyonel Luft aus. Alles war in Ordnung. Es war nur ein kleiner Fehler, ein Missverständnis gewesen. Als die Anspannung gewichen war, lächelte er wieder.

"Ich bin eingeschlafen?", fragte Lyonel ungläubig und rieb sich durch Gesicht, genau durch die Tintenkleckse. "Dann war es mit Sicherheit sehr spät... Naja, danke dir auf jedenfall, auch, dass ich die Nacht hier, bei dir, schlafen durfte."

Er grinste, errötete leicht und schaute zu Boden.

"Kein Problem, das Bett war schließlich groß genug für uns beiden.
Vermutlich würde da sogar noch zwei weitere hinein passen... ich frage mich, wie viel Geld Hivnir und seine Tochter haben, dass sie sich sowas leisten können.
Erstaunlich, wirklich erstaunlich", meinte Zerra, die kurz aus dem Fenster geschaut hatte und sich lächelnd wiedr zu Lyonel umwandt.
"Du hast übrigens noch immer ein paar Tintenkleckse im Gesicht, vielleicht kannst du sie ja im Bad wegwaschen", sagte sie und wies dabei kurz auf ihr Gesicht.
"Du bist nämlich auf deiner Feder eingeschlafen und- ach ja, ich habe das Tintenfass gestern noch zu gemacht und es zu deiner Feder gestellt", sagte sie und deutete zum Tisch hinüber.

Lyonel sah zum Tisch, auf dem immer noch die zerknickte Feder stand, auf die er im Schlaf gesunken war. Alles schien zu passen, sodass er beruhigt aufatmete.
Allerdings hatte er Rhea die Feder, die ihm großzügigerweise zur Verfügung gestellt hatte, zerstört, was eigentlich schade war, denn es war eine schöne Feder eines südländischen Vogels gewesen, die er im Schlaf kaputt gemacht hatte.

"Danke dir. Danke dir wirklich. Auch für das Zuhören... Miterleben gestern abend...", meinte er und lächelte Zerra zu.
"Tut mir leid, dass ich dir das zugemutet habe, aber... aber ich musste es einfach mal mit jemandem teilen."

"Das verstehe ich... denke ich" Zerra lehnte sich gegen den Tisch und fuhr sich nachdenklich durch das morgendlich zerzauste Haar.
Bei ihr war das ganze ja anders gewesen. Ihre Geschichte wollte sie eigentlich nie erzählen.
Während Lyonel stets Leid zu gefügt wurde, ob direkt in der Arena, oder indirekt durch den Schändung seiner Schwester, oder ihren Tod, war sie das Gegenteil.
Sie hatte anderen Leid angetan. Und wer weiß... vielleicht hatte sie ihn ja in der Arena gesehen? Vielleicht hatte sie von oben zu geschaut, als er um sein Leben gekämpft hatte.
Stopp. Zerra schob mühsam die Gedanken beiseite und griff beherzt in die Obstschale.
"Hunger?", fragte sie, während sie zwei Äpfel in die Hand nahm und einen davon Lyonel hin hielt.

Lyonel nickte dankbar und nahm den Apfel an.
"Danke."
Nachdenklich biss er hinein und leckte sich den Apfelsaft von den Lippen, während er nachdenklich in die Luft starrte.
"Ist dir aufgefallen, wie ähnlich wir einander doch sind? Wir beide sind in Therinsford aufgewachsen, uns beide hat der Tod eines Familienmitglieds verändert..."
Er schwieg kurz und biss nochmal in den Apfel, dessen fruchtiger Geschmack im seltsam vertraut war. Wenn es eines gabe, was ihn wirklich fast sein ganzes Leben lang begleitet hatte, dann waren es Äpfel.

"Wir beide haben mehrere Jahre gelitten, schlimme Dinge getan. Immer auf unsere Weise. Und heute sind wir beide hier..."

Erstaunt blinzelte Zerra und nickte dann langsam. Darüber hatte sie noch gar nicht nach gedacht. Tatsächlich gab es da viele Ähnlichkeiten. Zerra biss in ihren Apfel und wischte sich dann mit dem Finger den Fruchtsaft von den Lippen.
"Stimmt... erstaunlich...", sagte sie endlich, nachdem sie geschluckt hatte. Zwar war es nicht direkt der Tod eines Familienmitglieds gewesen, was sie so verändert hatte... aber es war sicherlich der Beginn einer lang währenden Verwandlung.
"Ich muss zugeben, ich glaube an keine Götter... aber an solche Zufälle normalerweise auch nicht", fügte sie schmunzelnd hinzu und biss ein weiteres mal von der köstlichen Frucht ab.
"Wie lange hast du eigentlich in Therinsford gelebt? Wie viele Jahre?", fragte sie neugierig.

"Bis ich vierzehn war. Also, mehr als die Hälfte meines Lebens. Denn das, was du gesehen hast, liegt dreizehn Jahre zurück.", meinte er sofort. Er brauchte nicht zurückzurechnen, den Tag wusste er noch auf den Tag genau. Wie könnte er das je vergessen?
Gar nicht, das würde er niemals vergessen können, das wusste er
"Und du?"

"Mit dreizehn lernte ich Baldor kennen... dann war ich wohl vierzehn, als er mich mit nach Ceunon nahm.
Also so alt, wie du damals", überlegte Zerra und nickte dann verblüfft. "Sowas... da hätten wir uns eigentlich... schon viel früher über den Weg laufen müssen.
Damals, meine ich. Ich bin jetzt 27 Jahre alt... und du?", fragte sie forsch, während sie sich kurz darauf den Fruchtsaft von den Lippen leckte.

"Das war vor 13 Jahren...", wiederholte Lyonel und lachte auf.
"Ich bin 27, wie Du." Er lachte weiter.
"Das ist jetzt wirklich... Ich glaubs nicht..."
Er lachte weiter, diesmal leiser, und schaute sie ungläubig an.
Er glaubte nicht an einen Gott, oder ein höheres Wesen, aber das konnte schon kein Zufall mehr sein. Es war, als hätte das Schicksal sie getroffen, als wäre das geplant gewesen, als wären sie füreinander ausersehen.