Lange Tage waren vergangen seit die Gruppe Osilon erreicht hatte und die drei Reiter sogleich weiter nach Ellesméra aufgebrochen waren. Phineas und sie hatten sie zurückgelassen, hatten ihnen eingeschärft darauf zu achten, was geschah und sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben und Astaya hatte auf die Worte der anderen vertraut und die Ruhe genossen, die die Elfenstadt ihr bot.
Es war ein wundervoller Ort, an dem völlig andere Gerüche umherschwirrten als sie es aus den Städten kannte – alles hier schien voller Blumen und Pflanzen zu sein, die ihren süßen Duft zu dieser Jahreszeit versprühten um Insekten anzulocken, die begierig deren Nektar aufnahmen.
Astaya hatte hier Zeit für sich selbst gefunden und hatte sich von den schweren Wunden erholt, die die Folter nicht nur an dem Körper des jungen Mädchens hinterlassen hatte. Ab und an ertappte sie sich dabei, wie sie darüber nachdachte, wie es wohl ihrem Vater, Charles und den anderen ging, die weit weg von ihnen waren und ihr Leben riskierten während sie sich hier in Sicherheit wähnten.
Leise seufzend erhob sie sich von dem Stuhl auf dem sie saß und ihre Hände strichen über das warme Holz, aus welchem das Möbelstück gesungen war. Noch immer spürte sie den leisen Hauch des Lebens, der durch alle Gegenstände floss wie ein leises Wispern, auf das kaum jemand zu achten schien.
Mit der Ruhe, die Astaya hier gewonnen hatte, waren jedoch auch die Träume und Visionen wieder gekommen, die sie des Nachts in ihren Bann gezogen hatten und sie nur selten vor dem Morgengrauen wieder entließen. Dinge, die ihr zeigten, was ihnen noch bevor stand und ihr Herz wieder schwerer werden ließ. Es war so unfair …
Leises Klopfen erklang und Astaya hob den Kopf, runzelte irritiert die Stirn, weil seit Tagen niemand hierhergekommen war außer Phineas, wenn der ältere Bruder etwas zu erledigen gehabt hatte. „Herein …“, antwortete sie leise, doch es erklang kein Klicken der Tür, das darauf schließen ließ, dass eben jene geöffnet worden war.
Verwirrt und mit einem unguten Gefühl im Magen trat sie zu dem Klopfen hin und streckte die Hände aus, versuchte damit etwas zu ertasten, das ihre blinden Augen nicht sehen konnten – den Gegenstand, an welchem es geklopft hatte. Ihre Fingerspitzen ertasteten eine glatte, kühle Oberfläche und geschwungenes Holz als sie die Hand sinken ließ.
Ein Spiegel.
Die Erkenntnis nach was sie gegriffen hatte kam zu spät für das junge Mädchen, denn bereits im nächsten Moment verschwand der Widerstand unter ihren Fingern und eine unsichtbare Kraft begann an seine kalten Finger um ihr Handgelenk zu legen und daran zu ziehen.
„Nein!!“
Sie wusste, wohin man sie bringen würde und mit aller Kraft, die ihr zierlicher Körper aufbringen konnte, stemmte sie sich dagegen, versuchte sich aus dem Griff zu lösen, der immer heftiger an ihr zog und nun auch nach ihrer Taille griff. Sie wollte nicht zu ihnen zurück – wollte sich nicht wieder in Scorpios Gewalt befinden, nachdem sie geglaubt hatte, sie habe nun endlich einen Ort gefunden, an dem er sie nicht einfach zu sich rufen konnte, doch sie hätte es besser wissen müssen – hätte ahnen müssen, dass Ahriman durch die Möglichkeit der Spiegel sie nicht lange gewähren lassen würde.
„Lass los!“
Heftige Schritte vor der Tür zu ihrem Zimmer erregten ihre Aufmerksamkeit und ließen sie für einen kurzen Moment in ihrem Kampf inne halten. Diese eine Sekunde jedoch sollte ihr zum Verhängnis werden, denn gerade als die Tür aufgestoßen wurde, erlangten die Hände endgültige Macht über sie und zogen sie hinein in das Innere des Spiegels, verschluckten sie und ließen die kalte spiegelnde Fläche des Gegenstands zurück, die keinerlei Hinweise darauf gab, dass sie für eine kurze Zeit als Tor zu einem anderen Ort gedient hatte.