Versammlungssaal

Für einen kurzen Moment verschlug es ihm den Atem, während Astayas Worte nur langsam und wie durch einen dichten Nebel zu ihm hindurch sickerten und sich die Bedeutung des Satzes ebenso langsam erschloss. Sie konnten zusammen sein. Sie durften einander nahe sein. Für einander da sein. Es mochte ein Ende haben - irgendwann, in ferner Zukunft. Aber dem war immer so. Es gab immer irgendwann ein Ende von alledem. Doch wieso über das Ende nachdenken wenn man am Anfang stand? Dachte das Kind in der Wiege darüber nach wie es war in einem Sarg zu liegen?
"Das..." er brach ab, zog Astaya zu sich, spürte ihre weiche, warme Haut unter seinen Fingern und küsste sie. Kümmerte sich nicht um seinen Bart, der wohl kratzig und nicht sonderlich angenehm war. All dies hatte Zeit. Alles hatte Zeit, solange er Sie hatte. Solange er Liebe empfinden durfte. Einhundert Jahre - es war solch eine lange Zeit gewesen doch nun fühlte er sich wieder wie sechzehn, wie damals als sie sich kennen gelernt hatten.

Oromis war von der geistigen Nachricht schockiert worden und hatte sich bei Eärwen entschuldigt, ehe er durch die halbe Festung gerannt war um einige wichtige Dokumente heran zu schaffen, welche nun vor ihm und Caladhiel auf dem Tisch im Versammlungssaal lagen. Auch einige weitere Reiter und sogar Noah waren anwesend, während der alte Magier langsam das Pergament der Karte glatt strich und an die Enden jeweils kleine Statuen in Form von Drachen stellte.
"Das hier ist die aktuellste Karte, welche wir von Dras Leona haben. Unsere Bibliothekare haben auch während unserer Abwesenheit ständig die Schriften erweitert. Dieser Plan dürfte in etwa fünf Jahre alt sein" erklärte er und sah voller missfallen auf die Karte jener stadt, welche ihnen bisher nur Leid gebracht hatte. Doch bisher waren es dunkle Mächte gewesen, die das Volk bedroht hatten. Nun schien es, dass die Dunkelheit und das Miasma der Statd auch die Herzen der Bevölkerung verdunkelt und verschlossen hatte. "Ich habe die Unruheherde mit den roten Figuren markiert - dort wurden die meisten Leichen von unseren Späher gesehen"

"Wir haben ein paar Eingänge in der Stadt, über die wir Truppen hinein bringen können, aber keiner von ihnen ist groß genug, um genug Soldaten hinein zu bringen, damit wir nicht sofort in einen Hinterhalt geraten können", begann Caladhiel zu erklären während sie die blauen Augen sorgsam auf die Karte gerichtet hielt, die vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet lag und über die immer wieder ihre Finger glitten, als markiere sie dort ihre ganz eigenen strategischen Punkte auf der großen Karte, während sie in Gedanken seufzte. Sie spürte Anwars Missfallen in sich selbst regen, die Angst des Bündnispartners, der in dieser verfluchten Stadt sein Auge verloren hatte und auch sie selbst erinnerte sich mit Schrecken an das, was sie dort erlebt hatte. Die Menschen der Stadt hatten sie selbst während des ersten Pogroms gegen Magier gejagt, die Raz'ac hatten ihr beinahe Anurin genommen als sie in einen Hinterhalt geraten waren, die Männer der Stadt unter Ramirez hatten Anwar das Augenlicht genommen und sie war beinahe dem Helgrind geopfert worden, als sie noch jünger gewesen war. Diese Stadt brachte nichts als Schande und Finsternis hervor, aber wenngleich es ihr auch am Liebsten gewesen wäre, sie einfach nieder zu brennen, sie musste auch an jene unschuldige Seelen denken, die dort noch immer lebten und die sie nicht einfach als kleineres Übel abtun konnte.
"Was wir nicht vergessen dürfen ist der Helgrind in unserem Rücken, wenn wir uns der Stadt nähern. Die Männer müssen in der Nähe des Leona-See bleiben, damit wir selbst bei einer Belagerung nicht ohne Versorgung bleiben", führte sie ihre Erklärungen fort und seufzte noch einmal, versuchte Anwars Gedanken in ihrem eigenen Kopf zu beruhigen und dem zweiten Teil ihrer Seele Mut zuzusprechen. "Wir brauchen Männer, die die Tore von innen heraus öffnen werden. Die Stadt muss im späteren Verlauf noch immer von jemandem verwaltet werden und ich würde diesem Mann nur sehr ungern eine zerstörte Stadt zu Füßen legen. 5000 Mann - mehr können wir von hier nicht entbehren, ohne Narda und Vroengard gänzlich schutzlos zurück zu lassen und ich brauche einen weiteren Reiter, der mich dorthin begleitet", setzte sie noch nach und ließ ihren Blick durch die Anwesenden wandern ehe sie bei der hochgewachsenen Gestalt des Elfen hängen blieb, gegen den sie noch vor einer knappen Stunde gekämpft hatte. "Arva?"

"Ich werde an eurer Seite stehen" antwortete Arva und nickte während er sich die Karte ansah. "Dort gibt es einen kleinen Teil der Stadt, welche ohne Mauern ist" erklärte er und tippte mit einem Finger auf eine kleine Stelle dort wo ein Teil der Stadt an den Leona See grenzte.
"Dort waschen die Weiber die Kleider und es gibt kein Tor, welches verschlossen wird. Dras Loena liegt an einem See, keiner erwartet einen Angriff aus dieser Richtung. Es reicht nicht um eine Armee über zu setzen, doch einzelne Truppen? Durchaus möglich. Auf diesem weg würde ich zuvor eine einzelne Person nachts in die Stadt schmuggeln. Diese gibt sich als Bauer aus und kann uns das Tor öffnen. Dann stürmen unsere Soldaten von der einen Seite hinein, während ein anderes Battalion über den See setzt. Dann haben wir Soldaten im Herzen der Stadt und greifen von zwei Seite an. Die Drachen sollten sobald die Ballisten ausgeschaltet sind über die Stadt fliegen um die Moral zu brechen"

Vrael stand über dem Wasserbecken, in dessen Boden ein Spiegel eingelassen war. Das hin und her schwappende Wasser schlug gegen die hohen, marmornen Beckenkanten und beruhigte sich erst nach und nach wieder. Den größten Teil von Kabils Reise durch Ryanti hatte er nicht mitbekommen, war er zu jener Zeit doch noch auf seinem Drachen auf dem Weg nach Vroengard gewesen, doch kaum hier angekommen hatte er alles vorbereitet. Die Schale, das Wasser und der Spiegel waren alles Ingredienzien gewesen, welche Oromis ihm einst beigebracht hatte.
Nun beugte sich Vrael über die Schüssel und erstarrte. Der große Thronsaal, in welchem Kabil sich befand war größer und ausladender als alles, was Vrael jemals gesehen hatte. Sein Blick striff Fearchar, der wie eine riesige, zahme Echse auf einem Podest lag dann erkannte er zu seinem erschrecken Anaiah, die auf einem Thron saß. Doch als Kabils Blick zu dem Thron striff, auf dem eine golden schimmernde Gestalt saß erstarrte er. Es war ein seltsames Gefühl, gerade so als habe er keine Kontrolle mehr über seine Glieder und sein Blick wurde magisch von der Person auf dem Thron angezogen, während das Wasser des Beckens zu brodeln und Dampfen begann. Der heiße Dampf schlug Vrael ins Gesicht, ließ ihn schwitzen und trieb ihm die Röte  in die Wangen. Anaiahs Worte drangen nur unverständlich aus dem brodelnden Wasser zu ihm herauf und er konnte letztlich nur erahnen, was sie sprach, glaubte jedoch die Frage zu verstehen, was er hier eigentlich tat.
Dann mit einem Mal veränderte sich die Perspektive und Vrael sah nur noch ein riesiges Deckengewölbe und dann. Flammen. Reine Flammen waren auf dem Boden der Schüssel zu sehen während das Wasser gänzlich verdampfte. „Ich sehe dich kleiner Reiter. Ich spüre deinen Atem, rieche deine Angst und schmecke die Verzweiflung“ ein großer Vulkan, ein gewaltiges, weißes Auge und dann – die Schüssel selbst wurde unerträglich heiß während ein gewaltiges Brüllen seine Brust und die Halle selbst erschütterte. Vrael schrie, als die Schüssel zersprang und er in einer Explosion aus Rauch und Feuer nach hinten geschleudert wurde, über den Boden schlitterte und einige Meter weiter auf dem Boden liegen blieb. Seine Haut war gerötet und an einigen Stellen verbrannt. Auch seine Hände zeigten Brandblasen und er war sich sicher, dass er ohne die Schutzzauber wesentlich übler aussehen würde. „Cally…“ schrie er – halb schreiend, halb hustend.

Hastig trugen sie ihre Füße hinüber zu dem Jüngeren, der dort am Boden lag und hustend um Luft rang während um ihn herum die einzelnen Splitter einer Schüssel dampften, die durch einen Zauber zerbrochen war, dessen Nachhall auch Caladhiel in sich spürte und der sie schaudern ließ. Behutsam zog sie Vrael zu sich, schob einen ihrer Arme um seinen zitternden Körper während sie mit der anderen sanft über die gerötete Haut streichelte und die Magie ins Innere zog, jene dünne Linie zu der Kraft durchbrach, die sie seit jeher durchströmt hatte und von der sie sonst niemals Gebrauch gemacht hatte, wenn es sich hatte vermeiden lassen - nun jedoch drang ein helles, weißes Licht zwischen ihren Fingern hervor und versiegelte die Wunden, die er sich an Händen und Gesicht zugezogen hatte und die alte Magie beruhigte den aufgewühlten Geist, während sich auf dem Gesicht der Reiterin ein sanftes Lächeln abzeichnete.
"Es ist alles gut, ich bin hier, mein Kleiner", flüsterten ihre Lippen leise ehe sie sich zu ihm hinab beugte, um ihn sanft auf die Stirn zu küssen. Sie spürte seine Furcht, als wäre es ihre eigene während sich in ihrer eigenen Brust der Knoten aus Wut über das festsetzte, was Vrael soeben geschehen war und wer dafür verantwortlich war. Sie spürte das dunkle Grollen ihres Bündnispartners, als wäre sie selbst es, die es ausgestoßen hatte und wenngleich sie auch nichts lieber tun wollte, als dem inneren Drang nachzugeben und die Zähne zu fletschen, sofort aufzubrechen, um jenen dafür zu bestrafen, der hieran die Schuld trug. Niemand würde Vrael etwas antun, niemand würde ihren Sohn verletzen. Dennoch, trotz all der finsteren Gedanken, wagte sie es nicht, den Jüngeren all das erkennen zu lassen, was sich tief in ihr regte und so strich sie sacht über die wirren, schwarzen Haare des Jüngeren und festigte sanft den Griff um ihn. "Dir tut niemand mehr etwas an - nicht, solange ich hier bin."

Ein warmes Gefühl breitete sich auf seinem Gesicht aus, wie ein leises Prickeln und der Schmerz verschwand. "Es ist... in Ordnung" log er leise, spürte noch immer wie er unkontrolliert zitterte. "Ich... habe keine Angst. Ein Drachenreiter... hat keine Angst" er zwang sich zu einem Lächeln, das schmerzend auf seinem Gesicht blieb, ehe es wie ein Echo verhallte und zu schmelzen begann. "Ich habe soetwas noch nie gesehen. Es war... so Groß. Ich habe... Anaiah gesehen und dann... ich weiß nicht was es war. Eine goldene Gestalt, so hell das... einem die Augen brennen. Als sähe man direkt in die Sonne. Seine Stimme war wie Donner, der über die ferne Bergen rollt. Und diese Augen... so wie die Augen eines Drachen. Groß und tief und alt" er schüttelte sich.
"Es tut mir leid Cally... ich habe schon wieder versagt. Ich habe gedacht, dass ich diesmal alles richtig mache..."

"Du hast nicht versagt, mein Kleiner, hörst du?", war die einzige Antwort, die von Caladhiel im ersten Moment folgte ehe sie ihn erneut zu sich zog, für eine ganze Weile lang einfach nur still festhielt und den Moment wartete, bis sie sein heftig schlagendes Herz nicht mehr an ihrem eigenen Körper spüren konnte. Nach allem, was er berichtet hatte, verstand sie es, dass er verstört und verängstigt war und sie wollte in ihm nicht das Gefühl hervorrufen, er sei mit alledem gänzlich allein und sie würde ihn allein deswegen zur Seite schieben oder gar zur Verantwortung ziehen. In diesem Augenblick sah sie nicht einen einzigen Fehler des Jüngeren und so fiel es ihr nicht einmal schwer warm über seine Worte zu lächeln und ihm erneut durch die dunklen Haare zu streicheln. "Es ist alles gut. Du hast alles richtig gemacht", begann sie dann leise erneut zu sprechen und löste sich langsam von dem Jüngeren, nur um eine Hand zu heben und sie an Vraels Gesicht zu legen.
Wie oft hatte sie an seinem Bett gesessen als er kleiner gewesen war und hatte ihm Geschichten erzählt bis er eingeschlafen war, damit er sich nicht mehr vor den Monstern fürchten brauchte? Wie oft schon hatte sie seine Schürfwunden und Kratzer gesäubert, wenn er weinend zu ihr gerannt war, nachdem er gefallen war? Sie hatte ihm jedes Mal aufs Neue wieder aufgeholfen und ihn bei der Hand genommen und wenngleich er inzwischen auch erwachsen sein mochte - vor ihren eigenen Augen sah sie noch immer den Jungen vor sich, der immer zu ihr aufgeblickt hatte und für den sie alles in Kauf genommen hätte, wenn es nur bedeutete, dass es ihm gut ginge. "Auch Drachenreiter haben Angst - mehr noch, als jeder andere auf dieser Welt", setzte sie noch leise hinterher und schüttelte sanft tadelnd den Kopf. "Wir finden heraus, wer oder was das war."

Vrael lächelte erneut, während er für einen kurzen Moment die Augen schloss und sich auf ihren sanften Herzschlag konzentrieren konnte. Sie war seine Welt und zusammen mit Astaya gab es niemanden, der ihm derart wichtig war. Er liebte Oromis auf seine Weise, er mochte all seine Freunde. Doch mit Caladhiel und Astaya verband ihn eine so tiefe, so bedingungslose Liebe, dass jeder Versuch sie beschreiben zu wollen ihr nicht gerecht werden konnte. Er liebte sie aus ganzem Herzen und wenngleich er sich auch noch immer fürchtete und das Geschehene sich tief in ihn Eingebrannt hatte - so wusste er doch, dass ihm nichts würde Geschehen können.
"Danke" flüsterte er leise und sanft. "Cally... ich... ich weiß, dass du in letzter Zeit viel durchmachst. Du willst es nicht zeigen und. Und." Ja was denn und? Du bist nur ein junger Schüler, nicht einmal mehr ein Reiter. Was könntest du denn schon tun? "Und ich wollte nur, dass du weißt.... Ich liebe dich und.... für mich und in meinen Augen wirst du niemals einen Fehler machen können. Ich werde immer zu dir stehen. Drachenreiterehrenwort"

"Und ich werde immer zu dir stehen", lautete die selbe Antwort auf seine Worte während das Lächeln, welches auf Caladhiels Zügen stand wieder an Ehrlichkeit und Wärme gewann - Emotionen, von denen sie nicht gedacht hatte, dass sie sie nach alledem, was geschehen war, überhaupt noch zu Stande brachte. Drachenreiterehrenwort ... dieses Wort, das sie für alle Versprechen genutzt hatten, die er ihr über all die Jahre hinweg gegeben hatte und von denen er ein paar doch wieder gebrochen hatte, um gemeinsam mit Umaroth auf der Insel zu spielen, selbst wenn sie es ihm verboten hatte. Dieses Wort war irgendwo in ihr eine warme Erinnerung an bessere Zeiten, denn wenngleich sie dafür, dass sie Vrael aufgenommen hatte, damals auch viel Missgunst und Abscheu hatte miterleben müssen, so hatte doch der kleine Junge mit den großen, dunklen Augen immer wieder dafür gesorgt, dass sie ihr Lächeln wieder gefunden hatte - es war eine Erinnerung an Zeiten, in denen sie etwas wie eine Familie gehabt hatte, ihre eigene Familie, von der jetzt nur noch Vrael und sie selbst übrig geblieben waren.
"Mach dir bitte um mich keine Sorgen, Vrael", erklärte sie leise und schüttelte noch einmal den Kopf, um seine Einwürfe und den Widerspruch abzuwiegeln, der ihm bereits auf der Stirn geschrieben stand. Er sollte sich keine Gedanken um sie machen - wichtig war er, seine Zukunft und sein eigenes Leben, von dem noch so unendlich viel vor ihm lag. Er sollte leben, sorglos und frei - in einer Welt, die nicht immer wieder aufs Neue durch Mord, Blut und dunkle Gestalten zerrissen wurde. "Solange es dich gibt und es dir gut geht werde ich nicht aufgeben.", ließ sie noch folgen ehe sie ein weit leiseres "Drachenreiterehrenwort" hinzusetzte.