Dünne, weiße Bänder waren um einen zierlichen Körper geschlungen und hielten eben jenen aufrecht. Sie waren um Arme und Körper gewunden, umschmeichelten sanft den dünnen Stoff eines langen, weißen Kleides, das sie am Leib trug und machten es ihr dennoch unmöglich, sich zu regen. Die langen weißblonden Haare fielen ihr offen und in sanften Wellen über den Rücken, verloren sich in dem fahlen Stoff, den sie am Leib trug während die blutunterlaufenen, blinden Augen sich immer wieder für einige Sekunden schlossen ehe die hellen Wimpern erneut blinzelten, als könne sie wie jeder andere auch etwas sehen. Blasse Lippen formten leise Worte, als wäre sie in Trance, schienen Antworten zu formen, auf Fragen, die ihr niemals gestellt worden waren während die Zeichen am Boden, geschrieben in die uralte Sprache des grauen Volkes, sie an jenem Ort gebunden hielten, den sie einst nicht ohne Grund den Raum der ewigen Fesseln genannt hatten.
So lange sie hier verweilte, würde alles Bestand haben - so lange sie hier verweilte, selbst an die Macht, die man ihr gab, gebunden war, solange würde auch der Welt dort draußen nichts geschehen, von der sie immer wieder träumte. Solange die Fesseln sie hier hielten, solange geriet die Welt nicht aus den Fugen und wenngleich sie auch niemals diesen Raum wieder würde verlassen können, so wusste sie doch, dass jene, die ihr einst wichtig gewesen waren, nur deshalb noch lebten, weil sie hier tief unter der Erde gebunden war, nahe jener steinernen Statue ihres Onkels, aus dessen Stein sie noch immer das leise Flüstern hörte. Es war ihre Macht, von der die Welt zehrte - ihre Macht, von der die Magier ihre Energie nahmen - jene Energie, die in ihr kanalisierte und von einem hellen, blauen Licht rührte, das über ihr das Deckengebilde des Raumes formte. Niemals würde sie mehr jemanden wahrlich sprechen hören, niemals würde mehr jemand ihren wahren Körper in die Arme nehmen können - niemals mehr würde sie die Berührungen eines anderen spüren können, denn niemand kam hierher. Niemand kannte diesen Ort, nachdem er versiegelt worden war, niemand wusste um den Zugang.
Ab und an träumte sie sich zu anderen, erlaubte es ihren Abbildern bei den Menschen sein zu können, die sie einst geliebt hatte und gestattete es sich selbst, sich in den süßen Träumen eines anderen Lebens zu verlieren, bevor die Wirklichkeit sie erneut einholte und ihre Zeit zu Gehen nahte. Es waren nur noch Träume, die ihr übrig geblieben waren, schemenhafte Gestalten ihrer selbst, die allesamt nur einen Teil von ihr selbst zeigten - niemals das Ganze, das noch übrig geblieben war. Ihr waren nur noch die Träume nach dem Kampf gegen ihren Onkel geblieben - damals, als sie die Menschen hinaus gebracht hatte und sich selbst jenem Fluch geopfert hatte, den auch ihre Mutter einst getragen hatte, bevor ein Teil von ihr in dem Kampf zerstört worden war.
Sanft beugte sie die filigranen Hände, doch was immer sie auch tat - sie spürte kaum mehr etwas von ihrem eigenen Körper, der nun seit über 120 Jahren hier gebunden worden war. 'Ich verstehe den Grimm in deinem Herzen, aber du musst verstehen, wir sind nicht das Schicksal. Wir führen es nur aus. Du weißt, ich habe dich immer geliebt, immer als mein eigenes Kind angesehen', flüsterte eine leise Stimme in ihrem Geist, warm und versöhnlich, einlullend und vertraut. Jene Stimme, die sie stets begleitet hatte, wann immer sie gezaudert hatte, wann immer sie gezweifelt hatte - es war die sanfte Stimme gewesen, die sie umfangen hatte, wie in einer warmen Umarmung und sanft lächelte sie, schloss die Augen, die von einem milchigen Schimmer überzogen waren.
"Ich weiß ... Mutter."