Es war Mittsommer-Abend, und die übliche Runde hatte sich im Wirtshaus zum Wegstein eingefunden. Fünf Mann waren keine große Runde, aber mehr kamen dieser Tage selten ins Wirtshaus, da die Zeiten nun einmal waren, wie sie waren. Der alte Cob ging ganz in seiner Rolle des Geschichtenerzählers und Ratgebers in allen Lebenslagen auf. Die übrigen Männer am Tresen tranken und hörten zu. Im Hinterzimmer stand der junge Gastwirt hinter der Tür und lauschte lächelnd den Einzelheiten einer altbekannten Geschichte.
„Als er erwachte, fand sich Kharas der Magier in einem hohen Turm eingeschlossen. Man hatte ihm sein Schwert abgenommen und seiner Werkzeuge beraubt: der Stab und der Ring waren fort. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste, denn …“, sagte Cob und machte eine Kunstpause, „… denn die Lampen an der Wand brannten lila!“ Steven, Jake und Shep nickten. Die drei Freunde waren gemeinsam aufgewachsen, hatten all die Jahre Cobs Geschichten gelauscht und seine Ratschläge missachtet. Cob sah zu dem neuen, aufmerksameren Mitglied seiner kleinen Zuhörerschar hinüber, dem Schmiedelehrling. „Weißt du, was das bedeutet, Junge?“ Alle nannten den Schmiedelehrling „Junge“, obwohl er eine Handbreit größer war als jedermann sonst. Wie in kleinen Ortschaften üblich, würde er wahrscheinlich so lange der „Junge“ bleiben, bis ihm ein Vollbart wuchs oder er deswegen jemandem die Nase blutig schlug. Der Junge nickte. „Die Schatten“- „Stimmt genau“, sagte Cob anerkennend. „Die Schatten. Es ist allgemein bekannt, dass lila Feuer eines ihrer Zeichen ist. Nun war er also-“ „Aber wie haben sie ihn gefunden?“, unterbrach ihn der Junge. „Und warum haben sie ihn nicht getötet, als sie die Gelegenheit dazu hatten?“ „Sei still, das erfährst du noch früh genug“, sagte Jake. „Lass ihn weitererzählen.“ „Ruhig Blut, Jake“, sagte Steven. "Der Junge ist nur neugierig. Trink dein Bier.“ „Mein Bier ist alle“, murrte Jake. „Ich brauch ein neues, aber der Wirt ist ja immer noch im Hinterzimmer am Rattenabziehen.“ Er pochte mit dem leeren Krug auf den Tresen und rief:
„He, wir verdursten hier!“ Der Wirt erschien mit fünf Schalen Eintopf und zwei ofenwarmen Rundbroten. Er zapfte Jake, Shep und dem alten Cob je ein frisches Bier und gab sich überhaupt sehr geschäftig. Die Geschichte musste warten, während sich die Männer ihrem Abendessen widmeten. Der alte Cob schlang seinen Eintopf mit der wölfischen Eile eines ewigen Junggesellen hinunter. Die anderen pusteten immer noch Dampf von ihren Schalen, da hatte er auch schon sein Brot verspeist und kehrte zu seiner Geschichte zurück. „Nun musste Kharas fliehen, doch als er sich umsah, stellte er fest, dass seine Zelle keine Tür hatte. Und auch keine Fenster. Rings um ihn her war weiter nichts als glatter, harter Stein. Es war eine Zelle, aus der noch nie jemand entronnen war. Kharas der Magier aber kannte die Namen aller Dinge, und daher gehorchten ihm alle Dinge aufs Wort. Er sprach zu dem Stein: ›Zerbreche!‹ – und der Stein zerbrach. Die Mauer riss wie ein Blatt Papier entzwei, und durch die Lücke konnte er den Himmel sehen und die liebliche Frühlingsluft einatmen. Er ging hinüber, sah durch den Spalt und schritt dann ganz ohne Bedenken in die Luft hinaus …“
Der Junge riss die Augen auf. „Ist nicht wahr!“ Cob nickte ernst. „Kharas stürzte hinab. Doch er ließ die Hoffnung nicht fahren. Denn er kannte den Namen des Windes, und der Wind gehorchte. Er sprach zu dem Wind, und der Wind nahm ihn zärtlich auf den Arm und streichelte ihn. Er trug ihn zu Boden, als wäre er federleicht, und setzte ihn sanft, wie mit einem mütterlichen Kuss, auf den Füßen ab. Und als er dort stand und seine Seite betastete, wo er den Stich abbekommen hatte, sah er, dass es kaum mehr als ein Kratzer war. Vielleicht hatte er einfach nur Glück gehabt.“ Cob hielt inne und pochte sich wissend an den Nasenflügel.“Aber vielleicht hatte es auch mit seinem Umhang zu tun, welchen er um die Schultern trug." „Was für ein Umhang?“ fragte der Junge, den Mund voll Eintopf. Der alte Cob lehnte sich auf seinem Hocker zurück, froh über die Gelegenheit, etwas weiter auszuholen. „Kharas war ein paar Tage zuvor auf der Straße einer Kesslerin begegnet. Einem fahrenden Weib. Und obwohl Kharas nicht viel zu essen bei sich hatte, teilte er sein Abendbrot mit der Frau.“ „Sehr vernünftig", sagte Steven leise zu dem Jungen. „Jeder weiß doch: Die gute Tat vergilt der Kessler zweifach.“ „Nein, nein“, murrte Jack. „Richtig heißt es: Eines Kesslers kluger Rat zweifach vergilt die gute Tat.“ Da meldete sich zum ersten Mal an diesem Abend der Wirt zu Wort. „Da unterschlägst du aber das Wichtigste“, sagte er, in der Tür hinterm Tresen stehend: „Der Kessler gleicht die Schuld stets aus: Einfach, zahlt er einen aus. Zweifach, hilft ihm einer aus. Dreifach, schimpft ihn einer aus.“
Der alte Cob nickte, räusperte sich und fuhr mit seiner Geschichte fort. „Also dieser Umhang war sehr wertvoll. Aber da Kharas so freundlich zu der Frau gewesen war, schenkte sie ihm den Mantel. Aber solange Kharas ihn trug, konnten böse Wesen ihm nichts anhaben. Dämonen und dergleichen!“ „Für so etwas würde ich heutzutage eine schöne Stange Geld hinlegen“, bemerkte Shep düster. Er hatte an diesem Abend am meisten getrunken und am wenigsten gesagt. Alle wussten, dass auf seinem Hof in der vergangenen Nacht etwas schreckliches vorgefallen war, doch da sie alle gute Freunde waren, drängten sie ihn nicht, davon zu erzählen. Zumindest nicht so früh am Abend, und nicht solange sie noch so nüchtern waren. „Ja, wer würde das nicht?“, sagte der alte Cob und nahm einen tiefen Schluck. „Ich wusste gar nicht, dass die Schatten Dämonen sind“, sagte der Junge. „Ich habe gehört …“ „Das sind auch keine Dämonen“, sagte Jake mit Bestimmtheit. „Das waren die ersten Menschen, die sich Gottes Wahl des Weges widersetzt haben, und er hat sie daraufhin mit einem Fluch belegt, auf dass sie –„ „Erzählst jetzt du diese Geschichte, Jacob Walker?", fragte Cob in scharfem Ton. „Wenn ja, kannst du sie auch zu Ende erzählen.“ Die beiden Männer funkelten einander einen Moment lang an. Schließlich wandte Jake den Blick ab und murmelte etwas, das möglicherweise eine Entschuldigung war. Cob wandte sich wieder dem Jungen zu. „Das ist das große Geheimnis der Schatten“, erklärte er. „Woher kommen sie? Wohin gehen sie, wenn sie ihre Bluttaten verübt haben? Sind es Menschen, die ihre Seele verkauft haben? Sind es Dämonen? Geister? Niemand weiß es.“ Cob warf Jake einen verächtlichen Blick zu. „Auch wenn so mancher Schwachkopf behauptet, es zu wissen …“
An diesem Punkt ging die Geschichte in Gezänk unter – über das Wesen der Schatten, über die Zeichen, die dem Wachsamen ihre Anwesenheit verrieten, über das Auftauchen eines neuen Schattens in Ilirea von dem einige Händler berichtet hatten und darüber, ob der Mantel Kharas auch vor Banditen, tollwütigen Hunden oder Stürzen vom Pferd schützte. Es wurde hitzig debattiert, bis plötzlich die Eingangstür aufflog.